Verfahren gegen HIV-Arzt: Die Justiz hat versagt

Waage im Gerichtssaal
© Corgarashu/stock.adobe.com

Langjähriges Verfahren wegen Vorwürfen sexuellen Missbrauchs von Patient*innen endet ohne Urteil. Dieser Fall erschüttert das Vertrauen von Opfern sexualisierter Gewalt in den Rechtsweg.

Mehr als ein Jahrzehnt haben viele Menschen auf das Ergebnis des Gerichtsprozesses gegen einen Berliner HIV-Mediziner gewartet. Nun ist das Verfahren eingestellt worden – es wird kein Urteil mehr geben. Der beschuldigte Arzt muss eine Geldauflage von 25.000 Euro zahlen, ist aber im juristischen Sinne nicht verurteilt und gilt weiterhin als unschuldig. Darüber berichten unter anderem Der Spiegel , tagesschau.de, Siegessäule und queer.de

Das Ende des Prozesses ist eine schmerzhafte Enttäuschung für alle, die auf eine rechtsstaatliche Klärung der Vorwürfe gesetzt hatten. Auch die Deutsche Aidshilfe (DAH) hatte darauf gepocht. 

Beschwerden seit den 90er Jahren

Schon 2013 wandten sich vier Personen an die Ärztekammer, um Hilfe zu erhalten. Von „mindestens 100 Beschwerden wegen sexueller Grenzverletzungen gegen den Arzt“ seit den 90er Jahren berichtete später die Berliner Schwulenberatung. Fünf Personen zeigten den Arzt schließlich an. Im Jahr 2014 nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen auf.

Der Vorwurf: Der renommierte, in der schwulen Szene Berlins sehr bekannte Mediziner mit dem Fachgebiet sexuell übertragbarer Infektionen soll seine Position als Arzt ausgenutzt und im Zusammenhangt mit körperlichen Untersuchungen Patient*innen sexuell missbraucht haben. 

Als die Vorwürfe öffentlich wurden, erklärten immer mehr Patient*innen, überwiegend schwule Männer, ähnliche Erfahrungen gemacht zu haben. Mit rund 30 von ihnen sprachen die Journalistin Juliane Löffler und ihr Team. 2019 veröffentlichten „Buzzfeed“ und „Vice“ ihre umrangreichen Recherche-Ergebnisse. 

„Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung“

Erst im April 2021 kam es zum Prozess – acht Jahre nach der ersten Anzeige und fünf Jahre nach Anklageerhebung. Dem Arzt wurde vorgeworfen, zwischen August 2011 und Mai 2013 insgesamt fünf Personen bei Analuntersuchungen „unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses“ sexuell missbraucht zu haben. Der Arzt bestritt alle Vorwürfe, es habe sich bei seinen Handgriffen um medizinisch indizierte Verfahren gehandelt.

Als die Nebenkläger*innen in den Zeugenstand traten, lagen die fraglichen Situationen zum Teil bereits ein Jahrzehnt zurück. Die Verteidigung nutzte dies, um die Glaubwürdigkeit der Aussagen anzugreifen. Erinnerungslücken und ungenaue Details wurden als Beleg für verleumderische Vorwürfe gedeutet. Zudem wurden die Menschen – möglicherweise Opfer sexuellen Missbrauchs – laut Prozessberichten während der Verhandlung angeschrien, eingeschüchtert und verunsichert.

Nach 22 Verhandlungstagen wurde der Arzt im November 2021 in drei Fällen freigesprochen. Der Fall einer trans Frau wurde vorläufig eingestellt, weil sie aus gesundheitlichen Gründen nicht verhandlungsfähig war. Die Aussagen eines Patienten hielt das Gericht für glaubhaft. Was im Arztzimmer vorgefallen war, sei ohne Zweifel sexueller Missbrauch gewesen. Das Amtsgericht verurteilte den HIV-Mediziner zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen à 300 Euro, aufgrund der langen Verfahrensdauer hätte er nur 36.000 Euro tatsächlich zahlen müssen.

Da der Arzt in Berufung ging, wurde das Urteil jedoch nicht rechtskräftig. Die Staatsanwaltschaft legte wegen der Freisprüche ebenfalls Rechtsmittel ein.

Der Fall ging damit ans Landgericht Berlin – doch erneut wurde das Verfahren verschleppt. Sogar eine Sprecherin der Berliner Strafgerichte spricht nun angesichts der langen Dauer des gesamten Verfahrens gegenüber dem Spiegel von einer „rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung“.

Am Ende wurde das Verfahren nun ohne Rücksprache mit dem Nebenkläger eingestellt. Der zeigte sich gegenüber dem Spiegel tief enttäuscht: „Man kann niemandem ernsthaft raten, sich aufs deutsche Rechtssystem zu verlassen, wenn man sowas erlebt hat.“

Wenn Wahrheitsfindung scheitert

Die Deutsche Aidshilfe hat gegenüber Buzzfeed und Vice damals betont, nur die zuständigen Gerichte könnten die Vorwürfe untersuchen und beurteilen. Dies ist nun gescheitert.

„Wir sind bestürzt, dass die rechtsstaatliche Klärung der Vorwürfe nach so langer Zeit scheitert und das Verfahren eingestellt wird“, kommentiert DAH-Pressesprecher Holger Wicht die Einstellung des Verfahrens. 

„Grundsätzlich müssen Opfer sexualisierter Gewalt auf das Justizsystem vertrauen können. Dieser Fall hat diesem Ziel geschadet: Wer damit rechnen muss, dass ein Verfahren sich so lange hinzieht und am Ende ergebnislos verläuft, wird sich eine Anzeige zweimal überlegen.“

(ascho/cl/howi)